Der Roman »Über die Berge und über das Meer« hat für ein Jugendbuch eine eher ungewöhnliche Thematik. Wie sind Sie zu diesem Thema gekommen?
Das hat viel mit meinem letzten Roman »Train Kids« zu tun, der die Erlebnisse junger Flüchtlinge aus Mittelamerika auf ihrem Weg durch Mexiko in die USA schildert. In den letzten Jahren war ich mit diesem Buch häufig zu Lesungen unterwegs, vor allem an Schulen. Dabei geschah es immer wieder, dass nach den Veranstaltungen Schülerinnen oder Schüler zu mir kamen und von eigenen Fluchterfahrungen erzählten. Einige von ihnen stammten aus Syrien oder dem Irak, andere aus afrikanischen Ländern, besonders häufig aber waren es junge Flüchtlinge aus Afghanistan. Ihre Schilderungen beeindruckten mich so sehr, dass ich beschloss, einen Jugendroman über das Thema der Flucht aus Afghanistan nach Deutschland zu schreiben.
Für die »Train Kids« sind Sie nach Mexiko gereist, um vor Ort zu recherchieren. Das war bei »Über die Berge und über das Meer« sicher nicht so leicht möglich?
Nein, und es wäre auch nicht sinnvoll gewesen. Erstens kann man sich in Afghanistan aufgrund des Krieges nicht so frei bewegen, wie es in Mexiko der Fall ist. Zweitens spreche ich die Sprache nicht. Und drittens hätte ich ja nur mit Menschen in Kontakt treten können, die noch im Land sind, also die Fluchterfahrung eben noch nicht gemacht haben. Ich habe stattdessen mit jungen Afghanen und Afghaninnen gesprochen, die bereits in Deutschland sind. An manchen der Schulen, die ich im Rahmen von Lesereisen regelmäßig besuche, gibt es »Willkommensklassen«, in denen junge Flüchtlinge Deutsch lernen. Fast immer sind auch Jugendliche aus Afghanistan darunter. Mit einigen von ihnen habe ich über ihre Erlebnisse gesprochen, sowohl über die Gründe, warum sie ihre Heimat verlassen mussten, als auch über die Erfahrungen, die sie während der Flucht und hier in Deutschland gesammelt haben. Diese Schilderungen waren eine wichtige Grundlage für den Roman »Über die Berge und über das Meer«.
Haben Sie diese jungen Flüchtlinge dann nicht in gewisser Weise ausgenutzt? Sie haben auf der Grundlage ihrer Erlebnisse ein Buch geschrieben, mit dem Sie jetzt Geld verdienen.
Den Vorwurf können Sie jedem Investigativjournalisten machen und auch allen Autoren und Autorinnen, die über realistische Themen schreiben und dazu recherchieren. Die Jugendlichen, mit denen ich gesprochen habe, waren ja über den Zweck der Gespräche genau informiert. Sie haben freiwillig und gerne daran teilgenommen, und ich denke, sie waren auch ein Stück weit stolz darauf, an diesem Projekt mitwirken zu können. Und der Weg von den nackten Rechercheergebnissen bis zu einem künstlerisch ausformulierten Roman ist lang und steinig, den musste ich alleine gehen.
Nach dem Roman »Train Kids« wenden Sie sich in »Über die Berge und über das Meer« zum zweiten Mal dem Thema Flucht und Migration zu. Warum?
Es ist eines der zentralen Themen unserer Zeit und wird dies ja absehbar auch noch für Jahrzehnte bleiben. Kaum ein anderes Thema berührt so viele existenzielle Fragen: Heimat und Fremde, Armut und Reichtum, Ausbeutung und Hilfsbereitschaft, Fremdenfeindlichkeit und Menschlichkeit, das Ringen um Identität, familiäre Schicksale, das Aufeinanderprallen verschiedener Kulturen – um nur einige zu nennen. Es geht um unsere Zukunft und um unsere Zukunftsfähigkeit. Außerdem besitzt das Thema Flucht und Migration eine hohe Emotionalität und ermöglicht viele spannende, bewegte Handlungselemente, was gerade im Jugendroman sehr wichtig ist.
Über den Umgang mit Flüchtlingen aus Afghanistan ist bei uns in letzter Zeit viel diskutiert worden. Wie stehen Sie dazu?
Die Flüchtlinge aus Afghanistan sind im Durchschnitt die am schlechtesten gebildeten, was bedeutet, dass sie hohe Integrationskosten verursachen. Das ist der Grund, warum sie bevorzugt abgeschoben werden sollen. Um dies moralisch zu legitimieren, erfindet man das Märchen, Afghanistan sei ein »sicheres Herkunftsland«. Das ist natürlich absurd, Afghanistan gehört zu den gefährlichsten und unsichersten Ländern der Welt. Wir sollten nicht der Versuchung erliegen, uns in der Migrationspolitik von solchen Unwahrheiten leiten zu lassen.
Glauben Sie denn, dass wir in Deutschland die Probleme der ganzen Welt lösen können?
Nein, das können wir sicherlich nicht. Deutschland ist nur ein Teil der Weltgemeinschaft. Aber ich glaube sehr wohl daran, dass jeder auf diesem Planeten eine Mitverantwortung für jeden anderen trägt. Das gilt besonders für uns in den Industrieländern, die wir seit Jahrzehnten so wunderbar auf Kosten der Entwicklungsländer leben. Natürlich kann man versuchen, das zu verdrängen. Aber es wird uns auf Dauer nicht gelingen. Diese Dinge holen uns ein. Je eher wir uns ihnen stellen – und zwar ehrlich, ohne Lügen –, desto besser.