Wann und wo sind Ihnen die jungen Migranten in Mexiko zum ersten Mal begegnet, und warum haben sie Sie seitdem nicht losgelassen?
Zum ersten Mal auf das Thema aufmerksam geworden bin ich im Jahr 2003 über eine Reportage in der Zeitschrift »GEO«. Schon damals hat mich die Geschichte dieser Jugendlichen tief berührt: die schwierigen Verhältnisse, in denen sie aufwachsen, die Einsamkeit und Orientierungslosigkeit, die sie empfinden, vor allem aber der Mut, mit dem sie sich gegen ihr Schicksal stemmen. Manche Themen packen einen eben, und bei diesem war es in besonderer Weise so. Ich habe es immer mit mir herumgetragen und gewusst, dass ich einmal darüber schreiben werde.
Sie haben für den Roman in Mexiko recherchiert. Was hat Sie dort besonders beeindruckt?
Zwei Dinge. Erstens die Beobachtung, wie diese Jugendlichen selbst unter schwierigsten Bedingungen und nach härtesten Rückschlägen die Hoffnung auf ein besseres Leben nicht aufgeben. Sie entwickeln eine unglaubliche Energie und verlieren nie ihre Lebensfreude. Und zweitens war es schön mitzuerleben, dass es in den weltlichen und kirchlichen Hilfsorganisationen viele Leute gibt, die den Migranten und Migrantinnen in selbstloser Weise helfen – gegen alle Gefahren und zum Teil auch gegen die Gesetze. Beides hat mich fasziniert, gerade im Vergleich mit unserer Wohlstandsgesellschaft, in der vieles so selbstverständlich geworden ist.
Fernando, Miguel, Jaz, Emilio und Ángel, die Hauptfiguren in Ihrem Buch, sind ganz eigene Charaktere mit unterschiedlicher Herkunft. Sie beschreiben sie lebendig und sehr authentisch. Gibt es reale Vorbilder?
Ja, die gibt es allerdings. Ich habe in Mexiko viele der jugendlichen Migrant*innen persönlich getroffen – in den Asylen und Herbergen, in denen sie sich für einige Nächte ausruhen können, aber auch direkt an den Bahnlinien, wo sie sich entlang der Strecke verstecken und auf einen Zug warten, mit dem sie wieder ein Stück mitfahren können. Manche von ihnen haben mir ihre Abenteuer erzählt, und davon ist viel in den Roman eingeflossen. Hinter den Hauptfiguren stehen also »reale« Menschen, die ich kennengelernt habe. Das macht vielleicht die Authentizität aus.
Sehen Sie Möglichkeiten, wie sich die brisante Migranten-Situation dort verbessern kann?
Das wird nur gelingen, wenn man an den Ursachen der Migration ansetzt. Diese Menschen verlassen ihr Zuhause ja nicht aus Spaß. Sie würden liebend gern in ihrem Heimatland bleiben, wenn es dort eine Zukunft für sie gäbe. Aber die gibt es eben nicht. Die kleinen Länder in Mittelamerika zählen zu den ärmsten der Welt, und dazu tragen die Industrieländer, allen voran die USA, mit ihrer Handels- und »Entwicklungs«politik einiges bei. Es gilt, die Wirtschaft dieser Länder zu stärken, die Armut zu bekämpfen und das Bildungsniveau zu heben. Das wäre der richtige Weg, an dieses Problem heranzugehen – stattdessen errichtet man Mauern und Zäune.
Auch in Europa gibt es aktuell viele Migrantenschicksale. Warum haben Sie sich entschieden, über mittelamerikanische Jugendliche zu schreiben?
Das hat mehrere Gründe. Erstens ist das Nebeneinander von Armut und Reichtum in dieser Region besonders krass. In Guatemala, Honduras, Nicaragua und El Salvador herrscht bittere Armut, in den USA extremer Wohlstand. Dazwischen liegt Mexiko. Deshalb erlebt dieses Land eine Migrationswelle, die größer ist als irgendwo sonst auf der Welt. Zweitens sind gerade dort viele Jugendliche unterwegs. Und drittens sind die Fahrten auf den Güterzügen in Mexiko besonders abenteuerlich, was für einen Jugendroman ja nicht eben unwichtig ist. So kann ich im Kleinen, also am Beispiel meiner Protagonist*innen, ganz eindringlich das beschreiben, was im Großen derzeit überall auf der Welt passiert.
Ihre ersten Jugendbücher, die »Anastasia Cruz«-Serie und »Edelweißpiraten«, behandeln eher historische Themen. Gibt es dennoch inhaltliche und literarische Verbindungslinien?
Auf jeden Fall. Die »Anastasia Cruz«-Bücher sind zwar im Kern Abenteuerromane, aber es geht immer auch um die Lebensbedingungen von Kindern in Entwicklungsländern sowie um das Aufeinanderprallen verschiedener Kulturen. Da sind deutliche Parallelen zu den »Train Kids« vorhanden. Ebenso bei den »Edelweißpiraten«: Jugendliche müssen sich unter extrem harten Bedingungen zusammen durchschlagen, müssen füreinander und für ihre Ziele einstehen, gegen alle Widerstände. Obwohl in ganz unterschiedlichen Zeiten und Ländern angesiedelt, geht es in diesen Romanen im Grunde also um sehr ähnliche Dinge.
Aufgrund Ihrer vielen Lesungen in Schulen haben Sie einen engen Kontakt zu Jugendlichen. Was glauben Sie, welche Reaktionen Ihr neues Buch bei den Jugendlichen auslösen wird, oder gibt es schon erste Erfahrungen?
Bei den Lesungen fragen mich die Jugendlichen gerne nach meinem nächsten Projekt, sodass ich schon oft über die »Train Kids« erzählt habe. Das Thema stößt immer auf großes Interesse. Viele haben selbst einen Migrationshintergrund oder sind in ihrem Freundeskreis damit vertraut. Wenn ich von den Erlebnissen und Begegnungen in Mexiko erzähle, herrscht oft ungläubiges Staunen. Es ist eine schöne Sache, den Jugendlichen zu vermitteln, dass es spannende und bewegende Geschichten auch und gerade in der Realität gibt – und nicht nur in irgendwelchen Phantasiewelten.